Erinnern Sie sich noch: Als Kinder hatten wir manchmal gelogen, einfach um uns vor Strafe zu schützen. In unserer kindlichen Not hatten wir uns so weit in unsere Lüge hineingesteigert, dass wir sie zuletzt glaubten und überzeugt waren, die letzten Pralinen aus der elterlichen Schachtel nicht stibitzt zu haben. Wir waren Kinder und konnten einfach der Versuchung nicht widerstehen. Früher oder später lernten wir, dass Lüge zerstörerische Folgen hat, weil sie uns gefangen nimmt und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen verdirbt. Mit zunehmendem Alter mussten wir den Zusammenhang von Reden/Handeln und dafür Verantwortung übernehmen verstehen lernen. Die Versuchung, sich mit einer Lüge aus der Verantwortung zu stehlen, war so gross, weil sie anfänglich ein schneller Ausweg aus einem Fehlverhalten zu sein schien. Dieser Prozess hatte seinen Preis. Und nicht alle Kinder haben ihn durchlaufen, und deshalb ist Lügen für einige Erwachsene zu einem Lebensmuster geworden. Früher oder später führt Lüge aber in eine Sackgasse, weil die Wahrheit ans Licht kommt.

Nicht erst unter Vladimir Putin ist die Lüge integraler Bestandteil nationaler russischer Politik geworden. Das war schon in der Sowjetunion so. Aber heute erleben wir in erschütternder Weise, wie Lüge in eine Sackgasse führt. Was wir als Kinder an uns selber beobachten konnten, gilt für Staatsmänner ebenso. Wenn wir über lange Zeit Lügen aussprechen, enden wir damit, dass wir sie selber glauben. Das gilt für Vladimir Putin. Er glaubt die Lügen, die er über Jahrzehnte gelehrt bekommen, übernommen und verbreitet hat. Wie immer der Ukraine-Krieg ausgeht, ist jetzt schon klar: Er endet in einer unfassbaren Katastrophe. Und die Lüge zerschellt an der Wahrheit.

Aber:

Haben wir im Westen nicht auch unsere Lügen, die wir wie Mantras endlos wiederholen und längst glauben? Da ist die wirtschaftliche Wachstumslüge, die Diskriminierungslüge, wonach ich, wenn ich anderer Meinung bin, mein Gegenüber diskriminiere, die Materialismuslüge, dass mehr haben glücklicher macht, die Gleichstellungslüge, dass wir alle die gleichen Chancen und Möglichkeiten haben müssten, die Lüge unbeschränkter individueller Freiheit usf.

Die Mutter aller dieser Lügen aber ist die Lüge, es gebe keinen Gott. Dabei ist es so offensichtlich, dass sich die ganze Schöpfung in ihrer mikro- und makrokosmischen Form nicht einfach durch Zufall, ohne Impulse «von aussen», aus sich selbst heraus hat entwickeln können. Wir glauben ja auch nicht, dass ein PC sein Betriebssystem selber entwickelt und auf sich installiert hat…

Haben wir uns mit dieser grundlegendsten aller Lügen nicht eingebunkert in einem beschränkten Lebensraum ohne Gott? Diese Gott-Losigkeit erscheint uns als grosse Errungenschaft, Befreiung aus «moralischer Unterdrückung». Dabei übersehen wir, dass gerade die Beschränkung auf eine materielle Welt oder auf eine innerseelische Spiritualität uns einengt und verhindert, in eine persönliche, authentische Beziehung mit dem einzigen wirklich existierenden Gott zu treten.

Die Idee einer Welt ohne Gott ist schon fast so alt wie die Menschheit selbst. Darf ich es in der unzimperlichen Sprache aus der Psalmensammlung im Alten Testament (vor ca. 3000 Jahren) zitieren: «Wer sich einredet: ‘Gott gibt es überhaupt nicht!’, der ist unverständig und dumm.»(Psalm 14,1). Der französische Philosoph, Mathematiker und Physiker Blaise Pascal hat vor über 350 Jahren nachgedoppelt: «Wer Jesus Christus nicht kennt, weiss nichts von Gott, nichts von der Welt und nichts von sich selbst»(Pensées, Fragment 417 (548)).

Letztlich geht es darum, dass wir frei («erlöst») werden von dieser Urlüge. «Erlösung» im biblischen Sinn meint, dass das Virus der Lüge in unserem Wesen durch Gott selber repariert werden muss. Bei allem Schrecklichen dieser Wochen dürfen wir nicht vergessen:  Russen, Ukrainer und Westler benötigen diese Reparatur dringend. Wir im Westen sind nicht einfach die Friedfertigen, die Gerechten. Auch wir haben dringend Korrektur von Gott nötig. Auch unser Herz ist beschädigt («böse», «sündig») durch diese Urlüge. Das zeigt sich auf struktureller wie auf individueller Ebene:  Die westliche Welt hat mit den russischen Oligarchen Geschäfte gemacht, ihnen die teuren Villen verkauft, die tollen Jachten gebaut. Dabei haben wir gewusst, dass Letztere sich beim Zusammenbruch der Sowjetunion schamlos die Rohstoffe des Landes unter den Nagel gerissen haben. Wir haben es gewusst.- Wir alle haben in unseren persönlichen Emotionen schon Menschen «beseitigt» aus Wut oder Verbitterung, Lehrer, Nachbarinnen, Klassenkollegen, die Verkehrsteilnehmerin vor mir…  Nach dem Massstab, den Jesus in seiner Predigt auf dem Berg an uns anlegt, ist nicht nur Putin ein Mörder. Auch ich, Sie.

Unsere Lebenslüge besteht darin, dass wir glauben, es gebe niemanden über uns, wir seien nicht erneuerungsbedürftig von Gott her, und immer noch denken: Wenn alle so wären wie ich, würde es besser aussehen auf der Welt. Heute, nach bald 60 Jahren leben mit Jesus, ist mir ganz klar: Die Welt ist so, wie sie ist, weil ich in meinem Wesen so bin, wie ich bin.

Eine Lüge wird nicht wahr, auch wenn ich sie so lange wiederhole, bis ich sie glaube. Wir können diese Lebenslüge aufgeben, weil Jesus am Kreuz für mich, für Sie gestorben ist, die Strafe an unserer Stelle physisch erlitten hat. (vgl. den Film von Mel Gibson; Jesus!).  Karfreitag ist der Erlösungstag und Ostern dessen unwiderlegbare Bestätigung: Gott selber hat diesen grausamen Tod auf sich genommen und damit die Gefangenschaft in der Lüge in uns überwunden. An meiner, an Ihrer Stelle. Auch an Putins Stelle…  Wenn wir die Lebenslüge der eigenen Rechtschaffenheit und Autonomie nicht als solche anerkennen, machen wir Jesus erneut zum Lügner und bleiben im Prinzip der Lüge gefangen. Zwischen Putin und mir sind nur graduelle Unterschiede in den Auswirkungen dieses mörderischen Prinzips.

Jesus hat seinen Zuhörern, die ihm vertrauten, gesagt:

Wenn ihr meine Worte in euch aufnehmt und in euch bewahrt, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die WAHRHEIT ERKENNEN, UND DIE WAHRHEIT WIRD EUCH FREI MACHEN.» (nach Johannes-Evangelium, 8,32). Wollen wir wirklich auf diese Freiheit verzichten?  

Hansjörg Baldinger